Lexikon des Agrarraums

Kurt G. Baldenhofer

Zuckerrohrplantage in Australien

Agrarökologie

Im Wandel befindlicher Begriff zur Bezeichnung sowohl einer Wissenschaft, einer Bewegung oder einer landwirtschaftlichen Praxis. In verschiedenen Regionen lassen sich unterschiedliche Bedeutungsschwerpunkte des Begriffs feststellen. Anfangs bezog sich Agrarökologie auf Pflanzenproduktion und -schutz. In den letzten Jahrzehnten kamen umweltbezogene, soziale, ökonomische, ethische und entwicklungsbezogene Aspekte hinzu.

In Deutschland hat die Agrarökologie eine lange Tradition als wissenschaftliche Disziplin und war zunächst nicht mit anderen Bedeutungen verknüpft. In den Vereinigten Staaten und Brasilien werden alle drei Bedeutungen unter dem Begriff verstanden, wobei die wissenschaftliche in den USA und die anderen in Brasilien dominieren. In Frankreich wurde unter Agrarökologie lange eine Praxis verstanden.

In seiner englischen Entsprechung wurde der Begriff Agrarökologie erstmals 1928 verwendet. Bis in die 1960er Jahre hinein war die Agrarökologie eine rein wissenschaftliche Disziplin. Dann entwickelten sich verschiedene Zweige. Aus den Umweltbewegungen der 1960er Jahre, die sich gegen industrielle Landwirtschaft richteten, gingen agrarökologische Bewegungen in den 1990er Jahren hervor. Seit den 1980er Jahren entstand die Agrarökologie auch als Praxis, die häufig mit den Bewegungen verknüpft war. In den letzten 80 Jahren vergrößerte sich auch das Betrachtungsspektrum der Agrarökologie von der Feld- zur Agrarökosystemebene, u. a. mit Blick auf Ökosystemleistungen, Bodenfruchtbarkeit, Biodiversität. Dabei untersucht man die Existenzbedingungen von Organismen in der Umwelt, die der Mensch für die Produktion bestimmter Kulturpflanzen gestaltet, insbesondere das Verhältnis von Anbausystemen, Natur- und Ressourcenschutz.

Agrarökologie als Wissenschaft

Als angewandte Wissenschaft untersucht Agrarökologie ökologische Prozesse in landwirtschaftlichen Produktionssystemen. Durch die Anwendung ökologischer Prinzipien können neue Managementansätze in Agrarökosystemen vorgeschlagen werden. Agrarökologen untersuchen eine Vielzahl von Agrarökosystemen. Das Feld der Agrarökologie wird nicht mit einer bestimmten Methode der Landwirtschaft in Verbindung gebracht, sei es organisch, regenerativ, integriert oder konventionell, intensiv oder extensiv, obwohl einige den Namen speziell für alternative Landwirtschaft verwenden.

Agrarökologie ist ein ganzheitlicher Ansatz, der versucht, Landwirtschaft und lokale Gemeinschaften mit natürlichen Prozessen in Einklang zu bringen, zum gemeinsamen Nutzen der Natur und der Lebensgrundlagen.

Die Agrarökologie ist von Natur aus multidisziplinär und umfasst Wissenschaften wie Agrarwissenschaften, Ökologie, Umweltwissenschaften, Soziologie, Ökonomie, Geschichte und andere. Die Agrarökologie nutzt verschiedene Wissenschaften, um Elemente von Ökosystemen wie Bodeneigenschaften und Interaktionen zwischen Pflanzen und Insekten zu verstehen, sowie die Sozialwissenschaften, um die Auswirkungen landwirtschaftlicher Praktiken auf ländliche Gemeinschaften, wirtschaftliche Beschränkungen bei der Entwicklung neuer Produktionsmethoden oder kulturelle Faktoren, die landwirtschaftliche Praktiken bestimmen, zu verstehen.

Agrarökologie als Praxis

„Agrarökologische Landwirtschaft“ geht über die Standards und Anforderungen des Bio-Landbaus hinaus, der mittlerweile auch im großen Stil betrieben werden kann. Im deutschsprachigen Raum haben sich jedoch eher Begriffe wie Permakultur oder biologisch-dynamischer Landbau als Identität stiftende Kategorien durchgesetzt. Klare Grenzen zwischen den einzelnen Begriffen zu ziehen ist sehr schwierig. Gemeinsam haben alle diese Formen der Landwirtschaft, dass sie in klarem Kontrast (und meist auch Konflikt) zur konventionellen, insbesondere zur industriellen Landwirtschaft stehen.

Auf der Ebene des landwirtschaftlichen Betriebs streben agrarökologische Praktiken ein Gleichgewicht der Nährstoffflüsse an, um günstige Boden- und Pflanzenwachstumsbedingungen zu sichern, den Verlust von Wasser und Nährstoffen zu minimieren und die Nutzung der Sonneneinstrahlung zu verbessern. Dabei recyceln sie Biomasse und regenerieren die biotischen Aktivitäten im Boden.

Zu den Praktiken gehören auch ein effizientes Mikroklimamanagement, Bodenbedeckung, angemessene Pflanzzeit und genetische Vielfalt. Sie versuchen, ökologische Prozesse und Leistungen wie Nährstoffkreisläufe, ausgewogene Räuber-Beute-Interaktionen, Konkurrenz, Symbiose und Sukzessionsveränderungen zu fördern. Das übergeordnete Ziel ist es, menschlichen und nicht-menschlichen Gemeinschaften im ökologischen Bereich zu nützen, mit weniger negativen ökologischen oder sozialen Auswirkungen und weniger externen Inputs. Aus Sicht des Lebensmittelsystems bietet die Agrarökologie Managementoptionen in Bezug auf Kommerzialisierung und Konsum durch die Förderung kurzer Nahrungsketten und gesunder Ernährung.

Entwicklungskonzept und Bewertung unterschiedlicher Anbausysteme nach Ertrag und Nachhaltigkeit

Entwicklungskonzept und Bewertung unterschiedlicher Anbausysteme nach Ertrag und Nachhaltigkeit

Nach Auffasung des Weltagrarberichts bedarf es einer agrarökologischen Evolution der Landwirtschaft, wie auch der Lebensmittelproduktion und des Konsums. Sich ihren jeweiligen Umweltbedingungen anzupassen, ist die Kunst der Landwirtschaft seit ihren Ursprüngen vor 10.000 Jahren. Erst in den letzten 100 Jahren erlaubte die Erschließung und Nutzung fossiler Energiequellen einem Teil der Menschheit, den aufmerksamen Austausch mit der Natur durch den Einsatz von Maschinen und moderner Chemie zu ersetzen. Dies führte in den letzten 60 Jahren zu einer beispiellosen globalen Umgestaltung und Ausbeutung natürlicher Lebensräume und regionaler Agrar- und Ernährungssysteme, deren Folgen heute zentrale Menschheitsprobleme geworden sind.

Quelle: Weltagrarbericht

Die Agrarökologie wurde als eine wichtige Reihe von Praktiken für den Aufbau von Klimaresilienz vorgeschlagen. Diese können die Vielfalt auf dem Betrieb (von Genen, Arten und Ökosystemen) durch einen Landschaftsansatz verbessern. Zu den Ergebnissen gehören der Erhalt und die Wiederherstellung von Böden und damit die Bindung von Kohlenstoff im Boden, die Reduzierung des Einsatzes von mineralischen und chemischen Düngemitteln, der Schutz von Wassereinzugsgebieten, die Förderung lokaler Lebensmittelsysteme, die Reduzierung von Abfällen und ein fairer Zugang zu gesunden Lebensmitteln durch nährstoffreiche und diversifizierte Ernährung.

Ein Prinzip der Agrarökologie ist es, zur Nahrungsmittelproduktion durch Kleinbauern beizutragen. Da klimatische Ereignisse Kleinbauern stark beeinträchtigen können, ist es notwendig, die Heterogenität der kleinbäuerlichen Landwirtschaft besser zu verstehen, um die Vielfalt der Strategien zu berücksichtigen, die traditionelle Bauern im Umgang mit klimatischen Schwankungen angewandt haben und noch anwenden. In Afrika kommen viele Kleinbauern mit Klimaextremen zurecht und bereiten sich sogar darauf vor, indem sie Ernteausfälle durch eine Reihe von agrarökologischen Praktiken (z. B. Biodiversifizierung, Bodenmanagement und Wassergewinnung) minimieren. Die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegenüber extremen Klimaereignissen hängt auch mit der Biodiversität auf dem Betrieb zusammen, die ein typisches Merkmal traditioneller landwirtschaftlicher Systeme ist.

Agrarökologie - Definitionen in unterschiedlichen Feldern

Als Wissenschaft ist die Agrarökologie:
(i) die integrative Untersuchung der Ökologie des gesamten Lebensmittelsystems, die ökologische, ökonomische und soziale Dimensionen umfasst oder, kurz gesagt, die Ökologie des Lebensmittelsystems;
(ii) die Anwendung ökologischer Konzepte und Prinzipien auf die Gestaltung und das Management nachhaltiger Lebensmittelsysteme; und, in jüngerer Zeit,
(iii) die Integration von Forschung, Bildung, Handeln und Veränderung, die Nachhaltigkeit in alle Teile des Lebensmittelsystems bringt: ökologisch, ökonomisch und sozial.

Agrarökologische Praktiken zielen darauf ab, Agrarökosysteme zu verbessern, indem sie natürliche Prozesse nutzbar machen, vorteilhafte biologische Wechselwirkungen und Synergien zwischen ihren Komponenten schaffen und ökologische Prozesse und Ökosystemleistungen bestmöglich für die Entwicklung und Umsetzung von Praktiken nutzen.

Als soziale Bewegung wird die Agrarökologie als Lösung für aktuelle Herausforderungen wie Klimawandel und Mangelernährung gesehen, die sich vom sogenannten "industriellen" Modell abhebt und es umwandelt, um lokal relevante Lebensmittelsysteme aufzubauen, die die wirtschaftliche Lebensfähigkeit ländlicher Gebiete auf der Grundlage kurzer Vermarktungsketten sowie einer fairen und sicheren Lebensmittelproduktion stärken. Sie unterstützt verschiedene Formen der kleinbäuerlichen Lebensmittelproduktion und Familienbetriebe, Bauern und ländliche Gemeinschaften, Ernährungssouveränität, lokales Wissen, soziale Gerechtigkeit, lokale Identität und Kultur sowie indigene Rechte für Saatgut und Rassen. Diese Dimension der Agrarökologie als politische Bewegung tritt zunehmend in den Vordergrund.

Diese drei Dimensionen der Agrarökologie, ihre Artikulation und ihre gemeinsame Entwicklung bilden einen ganzheitlichen Ansatz.

Quelle: FAO 2019

Agrarökologie als soziale Bewegung

Beginnend in den 1990er Jahren in den Vereinigten Staaten und Lateinamerika wurde Agrarökologie als Eigenbezeichnung von Bewegungen übernommen, um ein neuartiges Bild der Landwirtschaft und ihres Verhältnisses zur Gesellschaft auszudrücken. In Brasilien hat es die Agrarökologie als Wissenschaft nie gegeben, sie hat dort ihre Wurzeln in traditioneller Landwirtschaft. In den 1970er Jahren begannen Bewegungen, die landwirtschaftlicher Modernisierung kritisch gegenüberstanden, für alternative Landwirtschaft, Familienbetriebe und Ernährungssouveränität zu werben. Ein bekannter Unterstützer dieser Bewegungen war José Lutzenberger. In den 1980er Jahren wurden diese Bewegungen formalisiert. 2001 fand das „National Meeting of Agroecology“ statt, das zum Ziel hatte, für die Agrarökologie zu werben. 2003 erkannte die brasilianische Regierung die Agrarökologie unter dem Schirm der ökologischen Landwirtschaft formal an. In Deutschland ist die Agrarökologie als Bewegung mehr oder weniger nicht existent, da sich die meisten Produzenten der nicht-konventionellen Landwirtschaft eher der Permakultur oder dem biologischen Landbau zugehörig fühlen.

Der Unterschied: biologische Landwirtschaft und Agrarökologie

Die biologische Landwirtschaft ist ein Produktionssystem mit einer Zertifizierung. Es beruht auf einem Anbaumanagement, das den Einsatz von synthetischem chemischen Dünger und Pestiziden verbietet, wie auch von Antibiotika in der Tierproduktion. Dies gilt bis auf wenige spezielle Ausnahmen. Der Hauptunterschied zur Agrarökologie ist, dass es dort keine Zertifizierung gibt. Deshalb gibt es kein generelles Verbot von chemischem Produktionsmitteln, auch wenn der gegenwärtige Kernansatz darin besteht, diese extrem zu reduzieren oder auch komplett wegzulassen. Dies wird jedoch von verschiedenen Akteuren unterschiedlich diskutiert und favorisiert. Ebenso steht im Raum, ob es nicht in Zukunft eine Art Label für agrarökologische Produktion geben sollte.

Kritik

Kritik an der Agrarökologie bezieht sich auf den expliziten Ausschluss moderner Biotechnologie und die Annahme, dass Kleinbauern und -bäuerinnen eine homogene Einheit ohne Heterogenität in den Macht- (und damit Geschlechter-)Verhältnissen sind.

Agrarökologie und Sustainable Development Goals (SDGs)

Bei der Anleitung von Ländern zur Umgestaltung ihrer Nahrungsmittel- und Agrarsysteme, zum umfassenden Einsatz nachhaltiger Landwirtschaft und zur Erreichung von Null Hunger und mehreren anderen SDGs gingen 10 Elemente der Agrarökologie aus regionalen FAO-Seminaren zur Agrarökologie hervor. Die 10 Elemente der Agrarökologie sind miteinander verbunden und voneinander abhängig.

Als Analyseinstrument können die 10 Elemente den Ländern helfen, die Agrarökologie zu operationalisieren. Indem sie wichtige Eigenschaften agroökologischer Systeme und Ansätze sowie Schlüsselüberlegungen bei der Entwicklung eines günstigen Umfelds für die Agrarökologie identifizieren, sind die 10 Elemente ein Leitfaden für politische Entscheidungsträger, Praktiker und Interessenvertreter bei der Planung, dem Management und der Bewertung agroökologischer Veränderungsprozesse. Das Ziel ist, kleinbäuerlichen Betrieben in einkommensschwachen Ländern ein Einkommen auf Basis lokaler Kreisläufe zu sichern und dabei weitgehend auf externen Input (synthetischer Dünger, Pestizide) zu verzichten.

10 Elemente der Agrarökologie
Diversity Diversity: diversification is key to agroecological transitions to ensure food security and nutrition while conserving, protecting and enhancing natural resources [...]
Co-creation Co-creation and sharing of knowledge: agricultural innovations respond better to local challenges when they are co-created through participatory processes [...]
Synergies

Synergies: building synergies enhances key functions across food systems, supporting production and multiple ecosystem services [...]

Efficiency

Efficiency: innovative agroecological practices produce more using less external resources […]

Recycling

Recycling: more recycling means agricultural production with lower economic and environmental costs [...]

Resilience

Resilience : enhanced resilience of people, communities and ecosystems is key to sustainable food and agricultural systems […]

Human values

Human and social values: protecting and improving rural livelihoods, equity and social well-being is essential for sustainable food and agricultural systems [...]

Culture traditions

Culture and food traditions: by supporting healthy, diversified and culturally appropriate diets, agroecology contributes to food security and nutrition while maintaining the health of ecosystems [...]

Responsible governance

Responsible governance : sustainable food and agriculture requires responsible and effective governance mechanisms at different scales – from local to national to global [...]

circular economy

Circular and solidarity economy: circular and solidarity economies that reconnect producers and consumers provide innovative solutions for living within our planetary boundaries while ensuring the social foundation for inclusive and sustainable development [...]

Quelle: FAO

Weitere Informationen:

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