Lexikon des Agrarraums

Kurt G. Baldenhofer

Zuckerrohrplantage in Australien

Produktivismus

Agrarökonomische Bezeichnung für ein von den 1940er bis in die 1980er Jahre vorherrschendes Agrarregime, das sich durch eine staatlich geförderte, intensive, industrielle und expandierende Landwirtschaft auszeichnet, die vor allem auf Ertragsleistung und Produktionsmaximierung ausgerichtet ist. Daneben ist das produktivistische Agrarregime gekennzeichnet durch umweltbelastende Auswirkungen, vor allem ausgelöst durch immer intensivere Agrartechnologien und eine massive Erhöhung des Dünge-, Pestizid- und Herbizideinsatzes.

Produktivismus im Agrarbereich nimmt vielfach Anleihen am Konzept des Fordismus, der die Grundlage für eine maximal rationalisierte Massenproduktion setzte. Auf der Ebene von Agrarbetrieben äußert sich Produktivismus in den drei strukturellen Dimensionen Intensivierung, Spezialisierung und Konzentration der Landbewirtschaftung.

Unter Intensivierung wird ein hoher Input an kapitalintensiven Produktionsmitteln wie Düngemitteln, Pestiziden und Maschinen verstanden, dem ein entsprechend hoher Output an Flächenerträgen gegenübersteht. Die erhöhten Kapitalinputs substituieren den Einsatz von Arbeitskräften. Das daraus resultierende, häufig hoch mechanisierte und automatisierte Nutzungssystem wird als „high input-high output“-System bezeichnet.

Spezialisierung beschreibt eine Einengung des Produktionsprogramms eines Betriebs, einer Region oder eines Landes auf eines oder wenige Agrarprodukte und die damit verbundenen globalisierten Handelsbeziehungen. Entsprechend hoch spezialisiert sind die für diese Produktionsweise erforderlichen Tätigkeiten.

Konzentration bedeutet die Verteilung der Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, Boden) auf wenige Einheiten, etwa Betriebe, Gemeinden, Regionen oder Länder. Charakteristisch hierfür ist die Ausnutzung von Größenvorteilen der „economies of scale“ nach dem „Gesetz der Massenproduktion“. Dies kann sich darin äußern, dass die Zahl der Agrarbetriebe abnimmt, deren jeweilige Größe aber ansteigt.

In der Bundesrepublik kam es in den siebziger Jahren zu einer starken räumlichen Konzentration beim Weizen-, Kartoffel-, Milch- und Ölsaatenanbau auf bestimmte Agrargegenden. Eine solchermaßen produktionsorientierte Landwirtschaft ist gekennzeichnet durch strukturarme Agrarlandschaften mit einem geringen Anteil naturnaher Lebensräume. Häufig wird sie für Umweltprobleme verantwortlich gemacht, etwa für Grundwasserbelastungen, Verlust der Artenvielfalt und Unterbrechung von Stoffkreisläufen.

Post-Produktivismus

Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich vor allem im angelsächsischen Raum der Begriff einer „post-produktivistischen“ Landwirtschaft im wissenschaftlichen Sprachgebrauch durchgesetzt. Die Theorie des "Post-Produktivismus" vertritt die Meinung, dass sich die Landwirtschaft Großbritanniens und anderer entwickelter Länder von einer „produktivistischen“ Phase (d.h. einer Phase, in der die Produktion von Nahrungsmitteln die wichtigste Rolle spielte) zu einer „post-produktivistischen“ Phase entwickelt hat, in der die Landwirtschaft weitaus mehr Funktionen hat als bloße Nahrungsproduktion (z.B. Landwirtschaft als Landschaftsschutz, Agrarumweltpolitik statt Agrarproduktionspolitik usw.). Ihr Schwerpunkt liege nicht auf der Quantität, sondern auf der Qualität und Nachhaltigkeit der Lebensmittelerzeugung liegt.

Dieser dem Produktivismus gegenläufige Trend ist durch einen geringeren Einsatz kapitalintensiver Produktionsmittel und durch geringere Flächenerträge charakterisiert. In der Regel werden dabei vielfältige Agrarerzeugnisse produziert, die Handelsbeziehungen finden vorwiegend in der Region statt, und die räumliche Verteilung von Produktionsbereichen ist durch relativ geringe räumliche Konzentration gekennzeichnet. Ein weiteres Merkmal ist auch die integrierte Bereitstellung von „commodities“ (materielle Produkte) und „amenities“ (immaterielle Güter wie z.B. eine bestimmte Umweltqualität). Durch einen hohen Anteil naturnaher Habitate ist die Landschaftsstruktur komplex. Diese Form der Landnutzung nimmt häufig besondere Rücksicht auf Belange des Umwelt- und Tierschutzes. Ein Beispiel hierfür sind die Betriebe des ökologischen Landbaus.

Die wachsende Tendenz vieler Betriebe, sich mit dem ländlichen Tourismus ein weiteres Standbein zu erschließen, fällt ebenso in diesen Bereich wie die Honorierung ökologischer Leistungen über staatliche Agrarumweltprogramme, etwa von Landschaftspflegetätigkeiten. Ebenfalls typisch sind die landwirtschaftliche Nischenproduktion, beispielsweise von Feldgemüse, Beerenobst oder Wild, und die regionale Vermarktung von Qualitätsprodukten, zum Beispiel im Ab-Hof-Verkauf oder über Großküchen.

In der Wissenschaft ist allerdings umstritten, ob man überhaupt von einem generellen Übergang von einem produktivistischen Agrarregime zu einem post-produktivistischen Agrarregime sprechen kann. Viele Indikatoren des post-produktivistischen Agrarregime treffen nicht unbedingt auf die gesamteuropäische Situation zu, und manche europäische Agrarregionen sind nach wie vor eher produktivistisch ausgerichet.

Vor diesem Hintergrund wird darauf hingewiesen, dass eine "Territorialisierung" von Agrarregimen in Europa stattfindet. Zum einen findet dies Ausdruck in einem "post-produktivistischen Territorium", das sich vor allem in Höhenlagen oder in Gebieten mit extensiver Landwirtschaft befindet, und das durch hohe Nachhaltigkeit, geringe Anbauintensität und Bestückung, schwache Integrierung in den globalkapitalistischen Markt und horizontal integrierte Agrargemeinden charakterisiert ist. Zum anderen zeichnet sich dies durch ein "produktivistisches Territorium" aus, das sich vor allem in Tieflagen mit guten Böden befindet (z.B. Holland, Pariser Becken, East Anglia in Großbritannien, die deutsche Bördenzone, Teile des Schweizer Mittellandes, Emilia Romagna in Italien usw.), und das durch geringe Nachhaltigkeit, hohe Anbauintensität, starke Verflechtung mit dem globalkapitalistischen Markt und vertikal (des)integrierte Agrargemeinden gekennzeichnet ist.

Im europäischen Rahmen haben post-produktivistische Denk- und Handlungsweisen oft keine radikalen Veränderungen herbeigeführt, sondern eher schrittweise und graduelle Modifikationen produktivistischer Ideologien verursacht, und dies auch nur in manchen europäischen Agrarregionen.

Eine post-produktivistisch-orientierte Region kann sich durchaus neben einer produktivistisch-orientierten Region befinden oder selbst innerhalb einer Region können sowohl produktivistische als auch post-produktivistische Tendenzen aufgefunden werden.

Zumindest einige post-produktivistische Elemente haben seit Mitte der 1980er Jahre Einzug in die offizielle europäische Landnutzungspolitik und -praxis gehalten. Dieser Vorgang erhielt Auftrieb durch verschiedene Krisen, die die Agrarwirtschaft in Europa seit dieser Zeit erlebt hat, etwa die landwirtschaftliche Überproduktion, die Spannungen zwischen der bisherigen Praxis der EU-Agrarförderung und der Liberalisierung des Welthandels sowie die durch Tierseuchen und vielfältige Umweltprobleme ausgelöste Legitimationskrise der Landwirtschaft.

Im Jahr 2011 hatte der Ständige Ausschuss für Agrarforschung der Europäischen Union (SCAR) hat den Zukunftsbericht Sustainable food consumption and production in a resource-constrained world vorgelegt, nach dem es gelte Abschied zu nehmen von dem noch immer dominanten Paradigma des „Produktivismus" und es so schnell wie möglich durch ein Paradigma der „Suffizienz" (des Ausreichenden) zu ersetzen. Die Welternährung werde von einem komplexen Gemisch an „Knappheiten" bedroht, von denen viele einzelne das Potential zur Katastrophe hätten. Schlimmer noch sei die Tatsache, dass die Wissenschaft über das Zusammenwirken und die Rückkoppelungseffekte, mögliche „kritische Wendepunkte" und nichtlineare Systemzusammenbrüche praktisch keine verlässlichen Aussagen treffen könne

Multifunktionalismus

Ein dem Post-Produktivismus eng verwandter, teils synonymer Begriff ist der Multifunktionalismus, dessen Paradigma die Erbringung öffentlicher Güter durch die Landwirtschaft unterstreicht und das Ziel, über den Agrarsektor positive Umwelteffekte zu erzielen (z. B. Sicherung der Artenvielfalt, Offenhaltung der Kulturlandschaft) sowie den ländlichen Raum insgesamt nachhaltig zu entwickeln.

Der Begriff des multifunktionalen Agrarregimes wird auch verwendet, um die Phase zu beschreiben, die theoretisch, zeitlich und geographisch auf die post-produktivistsche Übergangsphase folgt. Multifunktionalität gilt als umfassender, und guter Begriff für rezente Veränderungen in der europäischen Landwirtschaft. Tatsächlich ist ein wichtiger Bestandteil des Konzepts der Multifunktionalität, dass verschiedene Funktionen der Landwirtschaft und Agrarlandschaft - die das gesamte produktivistische/post-produktivistische Spektrum umfassen - gleichzeitig anzutreffen sind.

Der Begriff einer multifunktionalen Landwirtschaft ist allerdings nicht neu, er wird seit den 1980er Jahren von zahlreichen Wissenschaftlern sowie von der EU-Kommission als einer der Schlüsselbegriffe im Zusammenhang mit einer nachhaltigen europäischen Landwirtschaft benützt. Allerdings ist der Begriff neu im Zusammenhang theoretischer Fragestellungen bezüglich post-produktivistischer Denk- und Handlungsweisen.

Während das post-produktivistische Agrarregime von einer missverständlichen zielgerichteten Veränderung ausgeht (d. h. von einem Übergang von einem Agrarregime zu einem anderen), in der alle Akteure (theoretisch) zum Ziel haben, post-produktivistische Denk- und Handlungsweisen anzunehmen, erlaubt der Begriff der multifunktionalen Landwirtschaft ein multidimensionales Zusammenspiel produktivistischer und post-produktivistischer Agrarregime. Der Begriff eines multifunktionalen Agrarregimes umfasst daher besser die Diversität, Nicht-Linearität und räumliche Heterogenität, die zur Zeit in der europäischen Landwirtschaft beobachtet werden können.

(s. a. Multifunktionalität der Landwirtschaft, nachhaltige Landwirtschaft)

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