Lexikon des Agrarraums

Kurt G. Baldenhofer

Zuckerrohrplantage in Australien

vertikale Landwirtschaft

Vertikale Landwirtschaft oder vertical farming ist ein Begriff der Zukunftstechnologie, die eine tragfähige Landwirtschaft und Massenproduktion pflanzlicher und tierischer Erzeugnisse im Ballungsgebiet der Städte in mehrstöckigen Gebäuden (sogenannten Farmscrapers) ermöglichen soll. Sie ist damit eine Sonderform der urbanen Landwirtschaft. Basierend auf Kreislaufwirtschaft und Hydrokulturen unter Gewächshausbedingungen sollen in Gebäudekomplexen auf mehreren übereinander gelagerten Ebenen ganzjährig Früchte, Gemüse, essbare Speisepilze und Algen erzeugt werden. Durch die Nähe zum Verbraucher spart man Transportzeit und -kosten ein.

Mit dem Konzept verbindet man den U.S.-amerikanischen Wissenschaftler Dr. Dickson Despommier, der mit seinem 2010 erschienene Buch „The Vertical Farm: feeding the world in the 21st Century“ seine Vision einer breiteren Öffentlichkeit präsentierte. Die Idee ist dabei nicht neu. Allerdingt haben Herausforderungen wie der Klimawandel, eine wachsende Weltbevölkerung und knapper werdende Ressourcen diese nun weiter vorangetrieben. Denn durch die Verlagerung der Produktion vom Boden in die Höhe und der damit verbundenen Nutzung von mehreren übereinander gelagerten Ebenen, kann mehr angebaut werden, als auf der vergleichbaren Grundfläche auf dem Boden. Zudem können Nutzpflanzen das ganze Jahr hindurch angebaut werden, da für sie optimale Bedingungen künstlich geschaffen werden können.

Hierfür benötigt man allerdings modernste Technik. Nutzungskreisläufen müssen optimiert und aufeinander abgestimmt werden, um die Produktion ressourceneffizienter zu gestalten (Controlled Environment Agriculture (CEA) technology). Derzeit gibt es weltweit daher erst eine Hand voll Pilotprojekte.

Angedacht sind die Vertical Farms vorrangig zur Erzeugung von Gemüse in urbanen Räumen. Es existieren aber auch architektonische Entwürfe, die neben der Aquakultur zusätzlich die Geflügel‐ und Schweinehaltung in das Betriebssystem integrieren. Der Betrieb einer Vertical Farm wird unter Ausnutzung möglicher regenerativer Energieformen favorisiert. Dies beinhaltet auch die potenzielle Verwertung von organischen Abfallprodukten zu Biogas. Darüber hinaus kann das verwendete Wasser, u.a. aus der Evapotranspiration, aufgefangen und wieder genutzt werden und verbleibt somit im Kreislauf. Zudem wird ein verringerter Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden bis hin zu völligem Verzicht prognostiziert. Durch die Nutzung von erneuerbaren Energien wird die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern reduziert. Die Befürworter des Anbausystems machen zudem auf die geringeren Auswirkungen der landwirtschaftlichen Produktion auf den Naturhaushalt aufmerksam, der durch eine großflächige Verbreitung von „vertikalen Bauernhöfen“ geschont würde. Dies betrifft u.a. die Problematik bezüglich Bodenerosion, Artenrückgang, Umwandlung natürlicher Flächen in Ackerland sowie die Belastung des Wasserhaushalts durch Beregnungsfeldbau oder Schadstoffeintrag aus der Landwirtschaft.

Um gebäudeintegrierte Anbaukonzepte umzusetzen, bedarf es einer Vielzahl von Akteuren wie Agrarwissenschaftler, Stadtplaner, Architekten, Politik, Verwaltung, Unternehmer, Banken etc. sowie der Akzeptanz der Bevölkerung. Die Erzeugung kann beispielsweise auf Dächern in Gewächshäusern oder „Flachbeeten“ stattfinden – sogenannten Sky Gardens – innerhalb von Häusern in Form von technisch automatisierten, mehrstöckigen vertikalen Farmen oder an Außenwänden mithilfe von an Netzen oder Gittern rankenden „Obst‐ und Gemüsegärten“. Pflanzenbewuchs auf einem Dach oder an einer Fassade hat zudem den positiven Nebeneffekt, dass diese sich im Sommer weniger aufheizen, die Luftqualität verbessert und Energiekosten für die Klimatisierung eingespart werden können. (ZALF 2013)

Visionäre Vertikalfarm
Visionäre Vertikalfarm

Die Abbildung zeigt schematisch, wie eine vertikale Farm aussehen kann uns wie einzelne Produktionseinheiten symbiotisch ineinandergreifen. Durch die vertikale Anordnung kann die Anbaufläche theoretisch beliebig vervielfacht werden.

Quelle: GenomXpressScholae

Ein Beispiel im großen Maßstab

Die weltweit größte vertikale Farm steht derzeit (2020) in den USA im Bundesstaat New Jersey. Dort kultiviert das Unternehmen AeroFarms in einer ehemaligen Stahlfabrik Gemüse in zwölf Etagen übereinander. Geerntet wird hier ganzjährig. Möglich ist das durch eine 24-stündige Beleuchtung mit LED-Lampen und eine Klimasteuerung, die stets für die optimale Temperatur und Luftfeuchte im Raum sorgt. Die Pflanzen wachsen nicht in Erde, sondern auf wiederverwendbaren Netzen aus recyceltem Kunststoff und werden über ein computergesteuertes Kreislaufsystem mit Wasser und Nährstoffen versorgt.

Dank dieser hocheffizienten Technik und dem Anbau in mehreren Etagen können in dieser vertikalen Farm auf 6.500 Quadratmetern über 900 Tonnen Gemüse pro Jahr produziert werden. Bezogen auf den Quadratmeter Grundfläche ist der Ertrag damit rund 390 Mal höher als im herkömmlichen Feldanbau. Oder anders ausgedrückt: AeroFarm benötigt gerade einmal ein Prozent der Fläche, die derzeit nötig ist, um die gleiche Menge an Gemüse auf Feldern in der Ebene zu produzieren.

AeroFarms baut in Abu Dhabi, der Hauptstadt der VAE ein 8.200 m² großes F&E-Zentrum mit der weltweit größte Indoor Vertical Farming-Anlage. Die Farm wird sich der hochmodernen Forschung und Entwicklung sowie der Kommerzialisierung relevanter lokaler Nutzpflanzen widmen und dabei das Fachwissen von AeroFarms und die firmeneigene vertikale Indoor-Landwirtschaft nutzen, die bis zu 95% weniger Wasser und keine Pestizide im Vergleich zur traditionellen Feldanbauweise verbraucht.

Mehr als 60 hochqualifizierte Ingenieure, Gärtner und Wissenschaftler sollen dort arbeiten und die folgenden Kompetenzzentren umfassen:

In Großbritannien steht mit 17 Etagen und 5.000 Quadratmetern eine ähnlich große Anlage wie in New Jersey. Sie ist die derzeit größte vertikale Farm in Europa.

Es geht auch kleiner

Größe ist nicht alles. In Basel zum Beispiel hat das Startup Growcer gemeinsam mit der Supermarktkette Migros die schweizweit erste Vertikale Farm entwickelt. Dort hat man auf einer Fläche von 400 Quadratmetern eine Anbaufläche von 1.500 Quadratmetern geschaffen. Schnittsalate und Kräuter wachsen dort in der Senkrechten in drei Meter hohen "Türmen" und werden nach der Ernte binnen einer Stunde in nahegelegene Migros-Filialen geliefert.

Das Berliner Start-up Infarm  hat Gewächsschränke für Restaurants und Supermärkte entwickelt. In vielen Edeka-Läden wachsen Salate und Kräuter schon direkt in der Filiale. Das Hamburger Start-up FarmersCut züchtet Gemüse in der eigenen Fabrik und liefert es mit der Wurzel aus. So bleibt es mehrere Tage frisch. In der Nähe der schottischen Kleinstadt Dundee beschäftigt sich die Firma IGS mit der Frage, wie sich Pflanzen mit verschiedenen LED-Farben verändern lassen. Eine Portion Grün zur richtigen Zeit lasse die Pflanze größer werden, eine kleine Dosis Infrarot verbessere den Nährstoffgehalt, sagt Geschäftsführer David Farquhar. Die finnische Evergreenfarm beansprucht für sich, den produktivsten Gemüsegarten zu haben – mit rotierenden Säulen, in denen Erdbeerpflanzen künstlich bestäubt und automatisch geerntet werden können. (ZeitOnline)

Auch für den Hausgebrauch gibt es mittlerweile schon kleine High-Tech-Gemüsegärten zu kaufen. In sogenannten Plantcubes gedeihen Blattgemüse unter idealen Bedingungen, abgeschnitten von der Außenwelt, stets versorgt mit der perfekten Dosis Wasser und LED-Licht.

Bioprodukte aus vertikaler Landwirtschaft?

Wenngleich die vertikale Erzeugung von Lebensmitteln in vielerlei Hinsicht durchaus besonders klima- und umweltfreundlich sein kann, gibt es kein Bio-Gemüse oder Bio-Obst aus vertikalen Farmen. Der Grundsatz des ökologischen Landbaus besteht nämlich in einer bodenbezogenen Produktion. Das heißt, die Pflanzen müssen in Erde wachsen. Auf künstlichem Substrat kultivierte Lebensmittel, die nur über eine wässrige Lösung mit Nährstoffen versorgt werden, dürfen nicht als "bio" oder "öko" verkauft werden. Dies wird sich auch mit der neuen EU-Öko-Verordnung, die 2022 in Kraft treten soll, nicht ändern.

Verbraucherinnen und Verbraucher teils noch skeptisch

Ein Problem für die Etablierung von vertikalen Farmen in großem Maßstab dürfte auch die teils noch fehlende Akzeptanz bei Verbraucherinnen und Verbrauchern sein. Mit so viel High-Tech produziertes Gemüse lehnen viele Kundinnen und Kunden als unnatürlich ab. Auch die Tatsache, dass bei erdelosen Kulturverfahren, wie sie in der vertikalen Landwirtschaft zum Einsatz kommen, die für die menschliche Darmgesundheit so wichtigen Mikroorganismen aus der Erde fehlen und daher künstlich zugesetzt werden müssen, stößt vielfach auf Vorbehalte.

Quelle: BLE

Weitere Informationen:

Pfeil nach linksvertikale KoordinierungHausIndexVerträglichkeitPfeil nach rechts