Lexikon des Agrarraums

Kurt G. Baldenhofer

Zuckerrohrplantage in Australien

Landwirtschaft 4.0

Landwirtschaft 4.0 bezeichnet die umfassende Digitalisierung der gesamten landwirtschaftlichen Wertschöpfungskette. Der Begriff spielt auf drei vorhergehende historische Umbrüche in der Landwirtschaft an: Die neolithische Revolution, den Agrarkapitalismus, der im England des 18. Jahrhunderts seinen Ausgang nahm, und die Grüne Revolution des 20. Jahrhunderts.

Allerdings ist diese historische Abfolge etwas beliebig. Vorstellbar ist für Deutschland eine Landwirtschaft 1.0, die sich vor und beim Übergang vom Agrar- zum Industriezeitalter etablierte, und zwar durch die Verbesserung der Fruchtwechselwirtschaft, die Erweiterung der Anbauflächen durch Kultivierung von Brachland, die Ausdehnung des Futterbaus und der Viehbestände mit Stallhaltung, die Entwicklung einer Düngerwirtschaft sowie die Erhöhung des Ertragspotentials durch neue und züchterisch veränderte Pflanzen und Tiere. Auch diese Entwicklung hatte ihren Ausgangspunkt in England. In Deutschland bekam sie Anfang des 19. Jahrhunderts durch die ab 1806 in Preußen eingeleitete Reformbewegung, zu der die schrittweise Aufhebung der Leibeigenschaft gehörte, ein revolutionäres Element. (Krombholz 2019)

Landwirtschaft 4.0 fungiert zudem als Spiegelbild des Konzeptes Industrie 4.0, also die Integration industrieller Produktionssysteme und Produkte in firmeninterne und -übergreifende Netzwerke des Internet of Things (IoT).

In einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich die Entwicklung zwischen Landwirtschaft und Industrie jedoch gewaltig. Während bei der industriellen Produktion viele Prozesse unter stets gleichen Bedingungen ablaufen können oder sogar genormt sind, ist die Arbeit in der Landwirtschaft geprägt von lebenden Systemen und nicht kontrollierbaren Faktoren, wie zum Beispiel Wetterbedingungen oder Bodenverhältnissen. Deshalb wird immer die Landwirtin oder der Landwirt als „Entscheider/in“ erforderlich sein und nicht vollständig durch Maschinen ersetzt werden können, wenngleich die automatisierte Technik von vielen Routinearbeiten entlasten kann.

Während die digital gestützte Integration des Managements landwirtschaftlicher Prozesse, Betriebe und Wertschöpfungsketten teils unter dem Konzept Smart Farming gefasst wird, wird Smart Farming aber auch als Baustein von Landwirtschaft 4.0 verstanden, wobei erst die Landwirtschaft 4.0 den Bogen zu den Wertschöpfungsketten und der Nachfrage der Endnutzer schlägt (Innovationsinitiative Landwirtschaft 4.0, 2016).

Dafür sollen Informationen aus der gesamten Wertschöpfungskette vernetzt werden, etwa zur Quantität von Angebot und Nachfrage oder zu Qualität und Nährstoffgehalt von Produkten sowie ethischen Standards und ökologischen Auswirkungen der Produktion. Anhand dieser Informationen können Produktion, Logistik und Vertrieb optimiert werden. Ziel ist es, durch eine erhöhte Transparenz und Flexibilisierung des Wertschöpfungsprozesses sowohl individuelle Kundenwünsche und Angebotsmöglichkeiten von Produzenten als auch weitere gesellschaftliche Zielsetzungen, die auch Nachhaltigkeitsaspekte beinhalten können, möglichst effizient ins Gleichgewicht zu bringen (Innovationsinitiative Landwirtschaft 4.0, 2016).

Beispielsweise soll das Ernährungsverhalten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen erfasst, prognostiziert und mit Daten aus Produktion und Vertrieb sowie Informationen zu den gesellschaftlich gesetzten Anforderungen an nachhaltige, gesunde Lebensmittel verbunden werden.

Allerdings reicht die Erhebung und Vernetzung der notwendigen Informationen dafür bislang noch nicht aus. Dies soll sich durch den Einsatz neuer Technologien ändern, die Lösungen auf allen Ebenen der landwirtschaftlichen Produktion bereitstellen. Im ersten Schritt erheben landwirtschaftliche Produktionsgeräte im IoT automatisiert große Mengen an Daten und kommunizieren diese an eine meist plattformartige Infrastruktur, wo sie im nächsten Schritt ausgewertet werden, oft unter Einsatz von maschinellem Lernen. Dieser grundsätzliche Trend zu einer multidimensionalen algorithmischen Optimierung immer komplexerer Systeme stellt den Kern des Konzepts Landwirtschaft 4.0 dar.

Neben dem IoT als Datenquelle, Plattformen als Infrastruktur und dem maschinellen Lernen als entscheidende Instanz können auch Blockchain-Technologien eine Rolle spielen, vor allem um Transparenz entlang der Wertschöpfungskette zu gewährleisten. Der wesentliche Vorteil der Organisation von Daten in einer Blockchain, also einem distribuierten oder dezentralen System anstelle eines zentralen Servers, ist die Gewährleistung von maximaler Transparenz durch Verifizierbarkeit bei gleichzeitiger Wahrung von Anonymität. Bislang werden Blockchains im Agrar- und Ernährungssektor vor allem im Handel und Transport eingesetzt, beispielsweise um Lieferketten bruchlos zu verfolgen. Mit der Ausbreitung der Landwirtschaft 4.0 wird aber eine Diffusion der genannten Technologien auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette erwartet.

Auch im Agrarbereich ist Digitalisierung inzwischen selbstverständlich. Die Produktion wird auf Basis von Daten, wie ständig aktualisierten Wettervorhersagen, geplant und mit hochautomatisierten, sensorbestückten Landmaschinen computergesteuert durchgeführt. Dabei liegen ideale Rahmenbedingungen für Big Data vor: Eine Vielzahl an Pflanzen und Tieren ist zu versorgen, deren Nahrung bzw. Dünger an die individuellen Bedürfnisse angepasst werden müssen, um die Nahrungsmittelproduktion zu optimieren. Auch die Nachhaltigkeit der Lebensmittelproduktion wird durch ein solches Precision Farming unterstützt, indem beispielsweise das Einbringen von Düngemitteln in den Boden minimiert und das Tierwohl durch bedarfsgerechte Versorgung erhöht werden. Die erfassten Daten von Pflanzen oder Tieren können zudem zusammengeführt und ausgewertet werden, um den Landwirt bei seinen Entscheidungen zu unterstützen – bis hin zum durchgängigen Digital Farming: Automatisierte, digitale Informationsverarbeitung und Kommunikation zwischen vernetzten Landmaschinen wie Melkrobotern oder Traktoren, die selbst intelligente Entscheidungen treffen. Zudem steigt der Bedarf nach Datenaustausch für wirtschaftliche Zwecke zwischen Landwirten und Agrarunternehmen infolge der Digitalisierung und Automatisierung. Hier setzen aktuelle Initiativen der Wirtschaft und Politik für die Entwicklung von Data Spaces im Agrarsektor an.

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