Lexikon des Agrarraums

Kurt G. Baldenhofer

Zuckerrohrplantage in Australien

Hemerobie

Maß für den gesamten Einfluss des Menschen auf natürliche Ökosysteme. Die aus den griechischen Wörtern hémeros (gezähmt, kultiviert) und bíos (leben) gebildete und erstmals Anfang des 20. Jahrhunderts benutzte Bezeichnung kann etwa mit Kultivierungsgrad übersetzt werden.

Die Hemerobie stellt die Gesamtheit aller Eingriffe des Menschen in den Naturhaushalt dar. Sie kann herangezogen werden, um Bereiche der Landschaft von besonders hoher Naturnähe zu bestimmen, deren Vegetation von einer relativ geringen menschlichen Einflussnahme geprägt ist. Hier treten natürliche Prozesse zunehmend in den Vordergrund. So können auch mittlerweile selten gewordene Arten auftreten, die geringere Bewirtschaftungsintensitäten benötigen. Je nach Intensität der anthropogenen Wirkungen können mehrere Hemerobiestufen unterschieden werden. Bei Ökosystemen der niederen Hemerobiestufen überwiegt die Steuerung durch natürliche, bei Ökosystemen der oberen Hemerobiestufen die Steuerung durch anthropogene Prozesse.

Als Referenz für die Einordnung aktueller Landnutzungsformen wird der Endzustand einer Sukzession im Sinne der potenziellen natürlichen Vegetation (pnV) herangezogen. Im Gegensatz dazu nimmt das Konzept der Naturnähe die ursprüngliche natürliche Vegetation als Referenz an. Während die ursprüngliche natürliche Vegetation die rekonstruierte Vegetation vor dem Sesshaftwerden des Menschen darstellt, gibt die pnV die Vegetation wieder, die sich schlagartig einstellen würde, wenn jegliche menschliche Einflüsse unterblieben. Das Konzept der Hemerobie ist demgegenüber aktualistisch ausgerichtet und gleicht einem Standortpotenzial, da es durch den Bezug auf die pnV irreversible Standortveränderungen berücksichtigt.

Es werden sieben Hemerobiestufen unterschieden, wozu Hemerobieindikatoren herangezogen werden. Je höher der Wert, desto größer ist der Eingriff des Menschen in die Landschaft. Der Wert 7 steht für eine vollständig versiegelte, also überbaute Fläche, der Wert 1 für ein vom Menschen gänzlich unbeeinflusstes Gebiet. Der Begriff bezog sich ursprünglich auf den Anteil der Neophyten (eingebürgerte Pflanzen seit 1500 n. Chr.) in der regionalen Flora. Diese Klassifikation wurde z.B. bei einer Ökotopkartierung Hollands im Maßstab 1:200.000 angewendet. Die Hemerobie wurde dabei in bezug zur potentiell natürlichen Vegetation (pnV) dargestellt. In der europäischen Kulturlandschaft sind kaum mehr natürliche, d.h. gänzlich unbeeinflusste Landschaften vorzufinden. In mehr oder weniger starkem Ausmaß hat der Mensch fast überall in die natürliche Umwelt eingegriffen. Damit übernahm er in landschaftlichen Ökosystemen eine wesentliche Reglerfunktion. Seit dem Zeitalter des Ackerbaus hat der Mensch begonnen, die Landschaft regional für seine Nutzen umzugestalten, was v.a. in der Veränderung des natürlichen Vegetationskleides zum Ausdruck kam. Seit der Industriellen Revolution im 18. Jh. greift der Mensch eine Stufe tiefer in den Naturhaushalt ein, indem z.B. zugunsten der Siedlungsentwicklung das natürliche Vegetationskleid großflächig entfernt wurde. Durch Versiegelung, Veränderungen des Großreliefs (z. B. Braunkohle-Tagebau), Einsatz von Agrarchemikalien und industrieller Schadstoff-Emmissionen wurde der Landschaftshaushalt großräumig verändert bis destabilisiert. Städtische Systeme können nur noch aufrecht erhalten werden mittels hohem Energieeinsatz für Ver- bzw. Entsorgung.

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