Lexikon des Agrarraums

Kurt G. Baldenhofer

Zuckerrohrplantage in Australien

Flechten

Flechten (lat Lichen) sind eine etwa 25.000 Arten umfassende Pflanzengruppe, die durch eine hochentwickelte Symbiose zwischen Pilzen (Mykobionten) und photoautotrophen Organismen (Algen oder Cyanobakterien = Blaualgen) charakterisiert ist. Die Symbionten leben in engem Kontakt miteinander und bilden einen dauerhaften, spezifisch gebauten Thallus (sog. Lager), der eine morphologisch-anatomische und physiologische Einheit darstellt. Die Doppelnatur ist äußerlich nicht erkennbar.

Die Eigenschaften der Flechten unterscheiden sich deutlich von jenen der Organismen, aus denen sie sich zusammensetzen. Erst in der Symbiose bilden sich die typischen Wuchsformen der Flechten heraus, und nur in symbiotischer Lebensgemeinschaft mit Photobionten bilden Mykobionten die charakteristischen Flechtensäuren. Grünalgen in Flechten bezeichnet man auch als Phykobionten, Cyanobakterien in Flechten auch als Cyanobionten.

Verbreitung und Lebensraum

Viele Flechten wachsen nur sehr langsam. Daher können sie nur an Standorten überleben, an denen sie nicht von Pflanzen überwuchert und an der Photosynthese gehindert werden. An feuchten Standorten können sie sich oft nicht gegen Moose durchsetzen. Unter geeigneten Bedingungen, etwa dauerhafter Feuchte und geeigneten Temperaturen, wie im Regenwald oder Nebelwald, wachsen Flechten um einige Zentimeter im Jahr. Ähnliche Wuchsformen in teilweise übereinstimmendem Habitat kommen bei den Luftalgen (Aerophyten) vor, die ebenfalls auf exponierten Oberflächen wie Baumstämmen oder Felsen wachsen und diese oberflächlich bunt färben können. In Mitteleuropa kommt die Gattung Trentepohlia vor.

Flechten haben meist bescheidene Stoffwechselansprüche und begnügen sich mit geringen Mengen an Mineralstoffen aus Staub, der über die Luft angeweht wird, oder Nährstoffen, die im Regenwasser enthalten sind oder aus dem Untergrund gelöst werden.

Viele Arten sind in der Lage, extreme Lebensräume zu erschließen. So können manche Flechten auf blankem Fels wachsen, andere wurden in fast 5000 Meter Höhe im Himalaya-Gebirge gefunden. Sie kommen in Hitze- und Kältewüsten ebenso wie in Heidelandschaften, in Mooren ebenso wie in Permafrostgebieten vor und können in Trockenstarre Temperaturen von −47 Grad Celsius bis +80 Grad Celsius überstehen. In der Antarktis lassen sich etwa 200 Flechtenarten antreffen; selbst bei 86 Grad südlicher Breite findet man in den Horlick Mountains noch sechs Flechtenarten.

Flechten besiedeln unterschiedlichste Standorte wie Baumrinde, Gesteine, Böden und selbst verrostetes Metall, Malerfarbe oder Kunststoffe; manche robuste Arten sind sogar an vielbefahrenen Straßen anzutreffen. Viele Flechtenarten sind substratspezifisch, das heißt, sie gedeihen nur auf basischem Gestein wie Kalkstein oder Dolomit oder saurem kalkfreiem Silikatgestein wie Quarz, Gneis oder Basalt.

Flechten und Tiere

Besonders im hohen Norden, wo die Vegetation spärlich ist, sind Flechten während der Wintermonate für Rentiere mit etwa 90 Prozent Hauptbestandteil der Nahrung. Meist handelt es sich um Rentierflechten (Cladonia), die sie mit ihren Hufen auch unter einer Schneedecke freilegen und mit Hilfe des Enzyms Lichenase verwerten können. Auch Elche nutzen diese Nahrungsquelle.

Für viele Larven von Schmetterlingen dienen Flechten als Nahrungsgrundlage, wie etwa für Vertreter der Gattung der Flechtenbärchen (Eilema), deren Raupen sich ausschließlich von Flechten ernähren. Im Übrigen sind es vor allem wirbellose Tiere wie Schnecken, Insekten und Milben, zu deren Ernährung Flechten in unterschiedlichem Ausmaß beitragen.

Viele Vögel verwenden Flechten, vor allem blatt- und strauchförmige Arten, für den Nestbau, wie etwa der Wanderregenpfeifer, der sein Bodennest aus etwa 250 Thalli der Totengebeinsflechte und anderen Vertretern der Gattung Cladonia und Cetraria baut.

Bioindikatoren

Flechten gelten als Zeigerorganismen für bestimmte Umweltbedingungen, insbesondere die Luftqualität. Dies liegt daran, dass das Zusammenleben zwischen Pilz und Alge leicht gestört werden kann. Die in Luft und Regen enthaltenen Nähr- und Schadstoffe werden nahezu ungefiltert aufgenommen, da Flechten keine speziellen Organe zur Wasseraufnahme aus dem Boden besitzen und über den gesamten Thallus Feuchtigkeit aufnehmen. Daher reagieren sie besonders empfindlich auf Luftverschmutzung.

Schließlich speichern Flechten auch radioaktive Substanzen. So lassen sie sich insbesondere zur Überwachung des radioaktiven Niederschlags nach atmosphärischen Kernwaffentests heranziehen. Nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl gelangten große Mengen radioaktiver Isotope nach Finnland und wurden dort von Rentierflechten (Cladonia) aufgenommen. In Rentieren, die sich hauptsächlich von diesen Flechten ernähren, reicherten sie sich weiter an und gelangten schließlich über die Milch der Tiere und den daraus hergestellten Käse als Nahrung in den menschlichen Körper.

Verwendung

Die älteste Verwendung von Flechten ist jene als Nahrungsmittel. Am bekanntesten ist die kontrovers diskutierte Ansicht, ob es sich beim biblischen Manna um die Wüstenflechte Sphaerothallia esculenta gehandelt haben könnte. Bestimmte Flechten, z. B. Cetraria islandica und Lecanora esculenta, wurden vor allem in Notzeiten gekocht oder als Mehlzusatz verwendet. Manche Teilnehmer schwieriger Expeditionen, etwa bei John Franklins Suche nach der Nordwest-Passage, haben nur dank Flechten überlebt. In Kanada waren manche Flechten als „tripes de roche“ (Felskutteln, rock tripe) bekannt. In der indischen Region um Ballari wird aus einer Parmelia-Art das Currygericht „rathapu“ zubereitet. In Japan gilt die Nabelflechte Iwatake (Umbilicaria esculenta) als Delikatesse und findet als Suppe oder Salat Verwendung. In Nordamerika werden Bryoria-Arten als Nahrung zubereitet.

Seit dem Altertum werden Flechten auch als Heilmittel genutzt. Lange Zeit wurde aus den an Küstenfelsen vorkommenden Flechten der Gattung Roccella und der Art Pertusaria corallina die purpurfarbene Orseille, ein wertvoller Farbstoff, gewonnen.

Das Baummoos (Pseudevernia furfuracea) und das Eichenmoos (Evernia prunastri) werden in der Parfümindustrie genutzt. Die Alpen-Rentierflechte (Cladonia stellaris) wird schließlich in größeren Mengen aus Skandinavien importiert und findet als Modellbäumchen in Architekturmodellen oder in Kranzschmuck Verwendung. Beim Wilde-Mändle-Tanz des Alpenraums, der heute noch alle fünf Jahre in Oberstdorf aufgeführt wird, sind die Darsteller am ganzen Körper mit langen, zottelig herabhängenden Bartflechten, die auf das leinene Gewand aufgenäht sind, geschmückt. Lediglich die Augenpartie bleibt frei. Sie tanzen zu urtümlicher, rhythmischer Musik.

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