ländliche Siedlung
Uneinheitlich definierter und gebrauchter Begriff zur Bezeichnung der in großer genetischer, funktionaler, physiognomischer und sozialer Vielfalt auftretenden Siedlungen im ländlich geprägten Raum.
Beispielhaft folgen drei jüngere Definitionen:
- Siedlung, deren Bevölkerung die Pflanzen- und Tierwelt zur Erlangung von Nahrung und Kleidung für die Eigenversorgung nutzt sowie die gewonnenen Erzeugnisse teilweise vermarktet. Die ländlichen Siedlungen umfassen demnach die Lagerplätze der Wildbeuter, die Zeltlager der Jäger und Hirtennomaden, die standfesten Orte der Halbnomaden und die kleineren oder größeren Wohnplätze der Seßhaften, sofern sie auf Hack- oder Pflugbau, auf Garten- oder Plantagenbau, auf Fischfang oder Pelztierzucht beruhen, unter Hinzuziehung der jeweiligen Wirtschaftsfläche. (G. Schwarz, 1989)
- Eine im ländlichen Raum liegende und mit diesem funktional eng verknüpfte Siedlung, auch wenn sie funktional und physiognomisch nicht von der Land- und Forstwirtschaft (mit)geprägt ist. (C. Lienau, 1995)
- Von ländlicher Siedlung wäre in Mitteleuropa demnach zu sprechen, zu sprechen, wenn im äußeren Bild einer Siedlung das heutige oder frühere Vorherrschen agrarischer Wirtschaftsformen prägend wirkt. [...] Vor allem das Überdauern von Bausubstanz, die ursprünglich "ländlichem" Wohnen und Wirtschaften diente, sollte als kennzeichnendes Merkmal ländlicher Siedlungen angesehen werden. (Born, M. 1977 nach Henkel, G. 2020)
Aus den Eigenschaften des ländlichen Raumes in Mitteleuropa ergeben sich für die dortigen ländlichen Siedlungen folgende physiognomischen und funktionalen Eigenschaften:
- besonderer Rechtsstatus in der Vergangenheit und z.T. noch heute in verschiedenen Staaten (in Deutschland ist die sich im Mittelalter entwickelnde rechtliche Differenzierung zwischen Siedlungen mit und ohne bzw. teilweisem Stadtrecht heute weitgehend bedeutungslos)
- geringe Größe (die statistische Grenze zwischen als städtisch bezeichneten und ländlichen Siedlungen ist in den verschiedenen Staaten sehr unterschiedlich festgelegt)
- geringe oder fehlende Zentralität, oft Zentralitätsferne (Dezentralität)
- geringe innere Differenzierung im Vergleich zur Stadt
- Dominanz der landwirtschaftlichen Nutzfläche und sonstiger nicht überbauter Flächen gegenüber der Siedlungsfläche
- geringer Verknüpfungsgrad untereinander, einen hohen bzw. höheren mit den Städten
- eine gegenüber Städten geringere Ausstattung mit industriellen Arbeitsplätzen und eine geringere Vielfalt und Qualität der Arbeitsplätze
- ein Pendlerdefizit
- eine Mindestzahl von landwirtschaftlichen Arbeitsplätzen
- eine insgesamt geringe(re) Wirtschaftskraft und Entwicklungsdynamik
- eine sozial noch überschaubare, wenn auch heute oft stark in sich gegliederte ländliche Gesellschaft, in der Nachbarschaftshilfe einen höheren Stellenwert besitzt, die soziale Kontrolle stärker ist als in der Stadt
- von der Stadt unterschiedene Wohnformen (Überwiegen von Ein- und Zweifamilienhäusern)
- ein Erscheinungsbild, das sich in Grund- und Aufriß der Gebäude und deren Anordnung zueinander aufgrund der anderen sozioökonomischen Funktion und Struktur von der Stadt unterscheidet.
Als Prozesse vollziehen sich in den ländlichen Siedlungen eine fortlaufende Entagrarisierung, eine Abnahme der ökonomischen Bedeutung und der Vorgang eines gesellschaftlich obsolet werdenden Wertgefüges des Bauerntums. Sie sind verbunden mit einer wachsenden Statusunsicherheit und einer Identitätskrise.
Hinsichtlich der Siedlungsgröße gilt für Mitteleuropa eine Klassifizierung, die im wesentlichen von der Anzahl der Hausstellen ausgeht. Weitere größenbezogene Merkmale können sein: Anzahl der Wohneinheiten, übrige Bebauung, Umfang der bebauten Fläche oder Anzahl der Einwohner.
Bezeichnung | Definition |
---|---|
Einzelsiedlung (Einzelhof / -haus) | 1 Hausstätte |
Doppelsiedlung (Doppelhof) | 2 Hausstätten |
kleine Gruppensiedlung (Weiler) | 10 - 20 Haus-/Hofstätten, bis 100 Einwohner |
kleine bis mäßig große Gruppensiedlung (kleines Dorf) | < 100 Haus-/Hofstätten, < 500 Einwohner |
mittelgroße Gruppensiedlung (Dorf) | < 400 Haus-/Hofstätten, < 2.000 Einwohner |
(sehr) große Gruppensiedlung (Großdorf, Stadtdorf) | < 400 Haus-/Hofstätten, > 2.000 Einwohner |
Quelle: Lienau, 1995 (verändert)
Die Wohnstätten der ländlichen Siedlungen, unter denen die eigentlichen Wohnräume und - sofern vorhanden - auch die Wirtschaftsräume zu verstehen sind, bestimmen durch ihre Form und Lage das Erscheinungsbild der Siedlung und letztlich auch der Landschaft. Baumaterial und Bauform von Hütten, Zelten, Häusern oder Gehöften sind abhängig von der Landschaftsausstattung und den Wirtschaftsformen.
Weitere Unterscheidungskriterien sind die Lage der Siedlungen sowie deren Benutzungsdauer, die von ephemer (flüchtig) über temporär bis zu permanent reichen kann. Beide sind stark bedingt von der Lebens- und Wirtschaftsform.
Von den ländlichen Siedlungen im eigentlichen Sinne sind eine Vielfalt von Siedlungen der anautarken Wirtschaftskultur zu unterscheiden, die zwischen Land und Stadt stehen. Die folgende Liste differenziert nicht zwischen historischen und aktuellen Typen:
- Bergbau-, Hütten- und Hammersiedlungen
- Waldgewerbliche Siedlungen (Köhler, Flößer, Harzer, Pottaschbrenner, Glasmacher u.a.)
- Fischereigewerbliche, -wirtschaftliche Siedlungen
- Siedlungen des Verarbeitungsgewerbes bzw. der Verarbeitungsindustrie (z.B. Hausgewerbe mit der Herstellung von Bürsten, Körben, Töpfen, Schmuckwaren, Uhren, Nägeln, Webwaren usw.)
- Holzwirtschaftliche Siedlungen (z.B. Sägewerksiedlungen in N-Europa oder Kanada, Siedlungen im Umfeld von Zellulose- und Papierfabriken u.w.)
- Verkehrssiedlungen (z.B. Hospize, Raststationen, Hafenplätze als Ein- und Ausgangspforten binnenländischer Bergbaudistrikte)
- Fremdenverkehrssiedlungen
- Wohnsiedlungen (New Towns)
- Schutz- und Herrschaftssiedlungen
- Kultsiedlungen
Der oben erwähnte Prozess der Entagrarisierung legt die Frage nach der Akzeptanz der Landwirtschaft im Gefüge der ländlichen Siedlung nahe. Eine jüngere empirische Untersuchung (Nolten 1998) in 14 west- und ostdeutschen Dörfern belegt diesbezüglich einen nicht unerheblichen Beitrag landwirtschaftlicher Emissionen zu Spannungen zwischen landwirtschaftlichen und nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerungsteilen. Als die bedeutendsten Belästigungsfaktoren werden der Geruch von Gülle, Mist oder Silage, verschmutzte Straßen und der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln angeführt. Trotz des weit verbreiteten Gefühls der Belästigung durch landwirtschaftliche Emissionen sprechen sich drei Viertel der Befragten gegen eine Trennung der landwirtschaftlichen Betriebe von den dörflichen Wohngebieten und damit für einen Verbleib der Landwirtschaft im Ort aus.