Lexikon des Agrarraums

Kurt G. Baldenhofer

Zuckerrohrplantage in Australien

Dorf

Nach geographischer Definition eine ländliche Gruppensiedlung mit geringer Arbeitsteilung ab einer Größe von ca. 100 Einwohnern bzw. 20 Hausstätten. Sie ist durch eine - zumindest ursprünglich - landwirtschaftlich geprägte Siedlungs-, Wirtschafts- und Sozialstruktur gekennzeichnet. Dazu kommt der unmittelbare Bezug zu Naturraum und Landschaft, sowie die Beschränkung von Einwohnerzahl und Siedlungsdichte.

Das Dorf unterscheidet sich vom kleineren Weiler nicht allein durch seine Größe, sondern auch durch eine Differenzierung in der Ausstattung mit einem Mindestmaß an Dienstleistungsangeboten, die teils der Versorgung mit spezifischen Bedarfsgütern der im primären Sektor tätigen Bevölkerung, teils mit ihrem universellen Charakter auch der Versorgung der Nicht-Agrarbevölkerung dienen. Dazu gehören u.a. Kirche, Schule, Post, Gasthof, Laden und Bürgermeisteramt.

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist jedoch der Begriff "Dorf" zu einer Art Synonym für "ländliche Siedlung" geworden, der damit auch ländliche Einzelsiedlungen und kleinere Gruppensiedlungen umfasst.

Dörfer sind keine einheitlichen Siedlungs-, Wirtschafts- und Sozialräume. In ihrer Vielgestaltigkeit bilden sie differenzierte räumliche, soziale und wirtschaftliche Realitäten ab, die von demographischen Faktoren (wachsende und schrumpfende Dörfer) überlagert werden.

Streusiedlungen werden in manchen Gegenden nicht als Dorf bezeichnet, sondern in Nordwestdeutschland als Bauerschaft, am Niederrhein als Honnschaft. Noch kleinere Wohnplätze mit nur ein oder zwei Haushalten werden als , Einzelgehöft, in Süddeutschland und den deutschsprachigen Alpenländern als Einöde oder Einödshof bezeichnet.

Traditionell stellte das Dorf – im Gegensatz zum kleineren Weiler – als Gemeinde der Bauern eine politische Einheit dar. Vor der Schaffung von Gemeinderäten im 19. Jahrhundert gab es im deutschsprachigen Raum den Ortsvorsteher, den Dorfschulzen. Durch die Gebietsreformen der 1970er bis 1990er Jahre sind die meisten Dörfer in Deutschland keine Gebietskörperschaften mehr, sondern wurden zu Ländlichen Gemeinden zusammengefasst oder in benachbarte Städte eingemeindet. Einen Kompromiss mit Resten von Eigenständigkeit der Dörfer stellen die Samtgemeinden dar.

Klassifizierungen

Dörfer können nach Größe, Grundriss, Lage, sozioökonomischer Funktion und Wirtschaftsweise klassifiziert werden. Grob unterscheidet man nach ungeregelten und geregelten Dorfanlagen, wobei letztere nur bei gelenkter und durchdachter Planung (Kolonisation) vorkommen. Zu den häufigsten Dorfformen gehören die Haufen-, die Reihen- und die Straßendörfer.

Im Zusammenhang mit den Dorfformen stehen die Flurformen. Spätestens im 20. Jahrhundert traten in deutschen Dörfern Zersiedelungsprozesse ein, wurden Flure bereinigt und Felder zu großen Schlägen zusammengelegt („Verkoppelung“).

Für Deutschland gilt die folgende Klassifizierung der ländlichen Siedlungsgrößen, die im Wesentlichen von der Anzahl der Hausstätten und der Einwohnerzahl abhängt: Einzelsiedlung, kleine Gruppensiedlung, große Gruppensiedlung (Dorf), Kleinstadt.

Größenstufen des deutschen / mitteleuropäischen Dorfes

  • Das kleine bis mäßig große Dorf mit 20 bis 100 Hausstätten beziehungsweise 100 bis 500 Einwohnern,
  • das mittelgroße Dorf mit 100 bis 400 Hausstätten beziehungsweise 500 bis 2.000 Einwohnern,
  • das große Dorf mit 400 bis 1.000 Hausstätten beziehungsweise 2.000 bis 5.000 Einwohnern und
  • das sehr große Dorf mit mehr als 1.000 Hausstätten und 5.000 Einwohnern.

Für die beiden letztgenannten Größenstufen werden vielfach auch die Bezeichnungen "Großdorf" und "Stadtdorf" gebraucht, womit die statistische Nähe zur städtischen Siedlung deutlich wird. Der Übergang vom Großdorf zur ländlichen Kleinstadt, die heute im Allgemeinen mit 5.000 bis 25.000, bisweilen sogar bis 50.000 Einwohnern ausgewiesen wird, ist im Einzelfall oft schwer zu begründen.

Etymologie

Der älteste Beleg für das Wort Dorf, thaurp, findet sich in der gotischen Bibelübersetzung des Wulfila, wo es einen eingezäunten Bereich bezeichnet. Diese Bedeutung ist auch für das nordfriesische terp wie auch das alemannische Dorf anzunehmen, das Wort sollte ursprünglich also nicht den Unterschied zwischen einer Einzel- und Gruppensiedlung anzeigen.

Vom 6. Jahrhundert bis in die Karolinger-Zeit kennen die Schriftquellen noch kein einheitliches Wort für "Dorf"; villa, vicus, cria und domus vereinzelt auch civitas bezeichnen jeweils verschiedene ländliche Siedlungsformen. Sie sind ihrem Sinngehalt nach aber höchstens im jeweiligen Kontext zu unterscheiden. Erst seit dem 12. Jahrhundert kann "villa" mit "Dorf" übersetzt werden. Der volkssprachliche Begriff "Dorf" erscheint zunächst als Annex von Ortsnamen, als selbständiges Wort gewinnt er im 13. Jahrhundert an Verbreitung. (Troßbach/Zimmermann)

Historie

Seit dem Frühneolithikum sind Siedlungen bekannt, die sich durch eine Ansammlung gleichzeitiger Häuser, einer ökonomischen Grundlage in der Landwirtschaft und gemeinsame Einrichtungen auszeichnen. Nach einer Definition des Dorfes, die auf ebendiese Kriterien abzielt, ist das „Dorf“ somit eine grundlegende Siedlungsform der Agrarkultur. Vorläufer des Dorfes ist der von Jägern und Sammlern mitunter nur saisonal aufgesuchte Wohnplatz. Gleichwohl sind in den Jahrtausenden der Vorgeschichte und des Mittelalters einige Veränderungen des Dorfes zu beobachten. Bedeutend scheint etwa die Entwicklung von der Tellsiedlung, die zu Beginn des Ackerbaus in Südosteuropa bis in den Donauraum verbreitet ist, zur Reihensiedlung und am Übergang zum Mittelneolithikum zur Streusiedlung mit lockerer, einheitlich orientierter Bebauung. Hier mögen kulturelle, soziale und wirtschaftliche Umwälzungen im Hintergrund stehen.

Dörfliche Siedlungen waren in Mitteleuropa bereits in frühgeschichtlicher Zeit verbreitet. In der Römerzeit trat neben das Dorf die "villa", das Landgut. Auch die Landnahme germanischer und slawischer Völkerschaften brachte eine Vielfalt ländlicher Siedlungsformen hervor. Zwar überwogen anfangs Kleinsiedlungen, es sind aber auch schon für das 6. und 7. Jahrhundert größere Gruppensiedlungen nachgewiesen. Ihre Bezeichnung als Dorf oder als Gehöftesiedlung hängt von der Definition ab, etwa von der Frage, ob Gemeinschaftseinrichtungen wie Straßen, Plätze oder Brunnen bestanden. Häuser und gehöfte, damit das Siedlungsgefüge insgesamt waren unabhängig von der Größe der orte instabil, teils wurden ganze Dörfer im Nahbereich verschoben. Erst im Hochmittelalter nahmen die Dörfer festere Gestalt an, was aber die Aufgabe ganzer Siedlungen (Ortswüstungen) noch immer nicht ausschloss. (Troßbach/Zimmermann)

So ist festzuhalten, dass - wie archäologische Zeugnisse belegen - bis weit ins Mittelalter das ländliche Siedlungsgefüge bedeutenden Veränderungen unterworfen war. Die klassischen Dorfformen Mitteleuropas sind oft nur Sekundärformen, die sich durch Siedlungskonzentrationen und -verlagerungen, aber auch durch komplette innere Umstrukturierung älterer Siedlungen entwickelten. Eng verbunden mit der Dorfgenese ist die Gemeindebildung, wie sie sich in schriftlichen Quellen fassen lässt und derzeit vorrangig ins 12./13. Jahrhundert datiert wird.

Dorfsiedlungsgebiete sind in Mitteleuropa die altbesiedelten Börden, die klimatisch günstigen Gäulandschaften Süddeutschlands, die hessischen Senken und die im Zuge der Ostkolonisation besiedelten Gebiete.

Die Verwendung des Begriffes "Dorf" für heutige nichtzentrale Gruppensiedlungen im ländlichen Raum Mittel-, Nord- und Westeuropas wird von Jäger (1987) aufgrund des starken Funktionswandels und des Fehlens des Begriffes "Dorf" in der aktuellen Gemeindeverfassung in Frage gestellt. Er betrachtet "Dorf" als einen historisch-geographischen Begriff. Kattler (1996) sieht den Begriff zu sehr mit emotionalen Bindungen behaftet, als dass er wissenschaftlich definierbar wäre. Henkel (2016) präsentiert ein lebendiges Portrait des fiktiven "Kirchhusen" als Repräsentant des "modernen Dorfes".

Merkmale von mitteleuropäischen Dörfern:

Verwaltungsdefinitionen

Der Stadt- und Gemeindetyp des deutschen BBSR ordnet die Einheitsgemeinden und Gemeindeverbände in die Kategorien Groß-, Mittel-, Kleinstädte und Landgemeinden. Kriterien sind die Größe der Gemeinde (Bevölkerungszahl) und ihre zentralörtliche Funktion. Hat eine Gemeinde innerhalb eines Gemeindeverbandes oder die Einheitsgemeinde selbst mindestens 5.000 Einwohner oder mindestens grundzentrale Funktion, dann wird diese als "Stadt" bezeichnet. Trifft eine dieser Bedingungen auf den Gemeindeverband bzw. die Einheitsgemeinde nicht zu, dann handelt es sich um eine Landgemeinde. Von den rund 4.500 Einheiten sind rund 1.700 Landgemeinden und 2.800 Städte.

Schwierige Quantifizierung

Für Deutschland wird verschiedentlich die Schätzzahl von 35.000 Dörfern genannt. Aber es fehlt ein allgemein gültiges Verständnis, was ein Dorf ist bzw. nicht ist. Dieses bleibt immer vom jeweiligen disziplinären Zugang sowie von der konkreten Fragestellung und Perspektive abhängig.

Mit dem Verlust der Eigenständigkeit zahlreicher Dörfer im Verlauf des 20. Jahrhunderts, insbesondere seit den 1960er Jahren in der damaligen Bundesrepublik und nach der Wiedervereinigung auch in den ostdeutschen Bundesländern, hat die Zahl der kleinen ländlichen Gemeinden beträchtlich abgenommen. Viele Dörfer sind auf diese Weise administrativ ebenso wie statistisch weitgehend unsichtbar geworden, allerdings bei großen Unterschieden zwischen den einzelnen Bundesländern. Eingemeindungen erfolgten zum einen in nahegelegene größere Städte, als deren Ortsteile die Dörfer dann baulich meist überformt wurden. Zum anderen vergrößerten sich auch ländliche Gemeinden und Kleinstädte – hier behielten die eingemeindeten Orte oft ihren dörflichen Charakter, ohne freilich in den Statistiken noch als Dörfer zu erscheinen. (BüL 2021)

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